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Liselotte Sperber (12. Januar 1912 - 18. April 2008)

Vielleicht ein bisschen Verachtung.
Ein Stolpertext
von Bernhard Schlink

In seinem Beitrag für den Mannheimer Morgen erinnert der Schriftsteller Bernhard Schlink an Liselotte Sperber aus Mannheim, die wegen ihrer jüdischen Herkunft ihre Heimat verlassen musste -wie die „Stolpersteine“ auf Straßen ein Anlass zum Innehalten und Aufmerken. Die Wiedergabe erfolgt mit freundlicher Genehmigung durch den Autor.

Liselotte und Manfred Sperber waren auf Hochzeitsreise in Rom, als ihn die Nachricht erreichte, dass er am 1. April 1933 seine Stelle in Berlin verloren hatte – der erste Boykott jüdischer Geschäfte, die ersten Kündigungen jüdischer Mitarbeiter. Sie kehrten nicht nach Berlin zurück, sondern zogen nach Wien. Er besaß die österreichische Staatsangehörigkeit, sie hatte sie mit der Heirat erworben. Sie nahmen Abschied von Mannheim, wo sie aufgewachsen war und beiden geheiratet hatten. Im Trauschein, den ihnen das Standesamt Mannheim ausstelle, steht hinter Manfreds Name „Jude“, hinter Liselottes „jüdisch“.
Sie waren in Wien ein glückliches junges Paar. Er fand eine Stelle und stieg in den Handel mit Möbeln ein. Sie bekamen 1935 ein Kind, ein großer Verwandten- und Freundeskreis freute sich mit ihnen, die Mutter kam aus Mannheim zu Besuch, und ein halbes Jahr später machte eine Wiener Freundin der Mutter mit dem Bericht über Liselotte eine Freude, „sie sieht prächtig aus“.
Liselotte schrieb auch Stücke - ein lustiges über die Liebe, ein ernstes über die Sehnsucht nach Palästina.

Liselotte wurde 1912 geboren, Tochter des Fabrikanten Julius Süß, und war ein lebhaftes, begabtes, hübsches junges Mädchen. Sie besuchte die Liselotteschule, brachte gute Leistungen und zeigte schlechtes Betragen; wichtiger als die Schule waren ihr das Schauspiel, die zionistische Jugendbewegung, die Musik und die Bälle der Saison. Sie schrieb kleine Stücke, ein lustiges über die Liebe und ein ernstes über die jüdische Sehnsucht nach Palästina. Sie trat im Liederkranz als Sängerin auf. Sie spielte im Theater der Schule, und sie spielte im Nationaltheater Mannheim neben Willy Birgel in Tolstois „Und das Licht scheint in der Finsternis“ und Schillers „Kabale and Liebe“. In ihrem Nachlass findet sich ein Telegramm, das die 16-Jährige informiert „Regisseur in Hollywood erkrankt. Großfilmaufnahme auf 5. Februar vertagt“, Beginn und Ende einer Karriere beim Film.

Liselotte Sperber mit ihrem Ehemann Manfred; Courtesy of the Leo Baeck InstituteDie Tante mahnt, Liselotte solle sich ihrem Ehemann anpassen, ihn nicht zum Zionismus bekehren.
19-jährig wollte sie mit einem Freund nach Palästina reisen, konnte aber nicht, weil ihre Mutter krank wurde. Sie bedauerte das, später fühlte sie sich schuldig, weil sie anders als der Freund nicht in Israel lebte. Aber niemand in ihrer Familie teilte ihren zionistischen Traum, auch Manfred nicht. „Du wirst Manfred doch nicht etwa zum Zionismus bekehren wollen? Pass lieber Du Dich ihm an!“ schrieb Tante Else ihr zur Verlobung.

Dabei hatte die Familie über die politische Lage keine Illusionen. Liselottes Vater schuf sich 1935 eine zweite Existenz in Paris. Liselotte und Manfred betrieben gleich nach dem Anschluss Österreichs ihre Ausreise in die USA. Im April 1938 wurde der Großvater Samuel Süß, Veteran des deutsch-französischen Kriegs von 1870/1871, Gründer der Zigarrenfabriken „Süß & Söhne“ in Lampertheim, Ehrenbürger der Stadt, beerdigt. Dabei wurde der Familie deutlich gemacht, wie es stand: Sie musste das Grab selbst ausheben, weil sich die Friedhofsarbeiter weigerten, für den Juden zu schaufeln. Liselotte und ihre Tochter bekamen ihr Visum 1939, wenige Tage vor Ausbruch des Kriegs, und erreichten die USA im Oktober, Manfred bekam sein Visum erst später und kam dort im Februar 1940 an.

Liselotte Sperber mit ihrer Tochter Ann im Jahre 1939; Courtesy of the Leo Baeck InstituteDie Familie war schreibfreudig. Liselotte und ihre 22-jährig verstorbene Schwester Aenne, Aenne und ihr Verlobter Fritz, Liselotte und Manfred, die Kinder und die Eltern und Tante Else – sie schrieben einander Briefe über Briefe, in denen es bis 1939 um Alltägliches geht, um Glück- und Genesungswünsche, um die Liebe von Braut und Bräutigam, um fürsorgliche Anteilnahme an den Wechselfällen des Lebens. Ab 1939 ist viel von den Schicksalen der Verwandten und Freunde die Rede; einer hat gerade noch ein Visum bekommen, ein anderer nicht, einige werden ins Lager nach Gurs gebracht, wenige von ihnen kommen raus und aufs Schiff in die USA oder nach Argentinien, Manfreds Eltern müssen nach Theresienstadt, Liselottes Mutter stirbt, der Vater wird interniert, kommt raus und schafft es 1942 gerade noch in die USA. Nach 1945 registrieren die Briefe, wer von der weiteren Familie überlebt hat und wer ermordet wurde – viele.

Der Vater kämpfte in den 1950er Jahren um Wiedergutmachung. Liselotte reiste wieder nach Mannheim.
Wenige der Überlebenden gingen nach Europa zurück, ein Onkel nach Deutschland, der Vater nach Paris. In den 1950erJahren kämpfte der Vater in Deutschland um Wiedergutmachung. Von den Bürgermeistern eingeladen, reiste in den 1980er und -90er Jahren auch Liselotte wieder nach Mannheim und Lampertheim und dankte danach für „die schönen Stunden“. Aber ihrem Freund in Israel schrieb sie, sie habe die Einladungen nur angenommen, weil sie nicht einsah, „warum die Halunken nicht für Reise und Aufenthalt bezahlen sollen“; sie zeigte sich nach der Rückkehr zwar „angenehm überrascht, unter den Menschen von 40 bis 50 Jahren eine ganze Anzahl getroffen zu haben, die immer wieder betonten, welches berechtigte Schuldbewusstsein sie bedrücke“, meinte aber letztlich, „die Nazis werden in Deutschland leider wieder die Oberhand gewinnen, über kurz oder lang“. Sie hatte mit Deutschland abgeschlossen, ohne Hass, ohne Bedauern, ohne Erwartung – vielleicht mit ein bisschen Verachtung. Dabei behielt sie ihre Kindheit und Jugend in Mannheim in guter Erinnerung, wechselte freundliche Briefe mit den Deutschen, die Kontakt zu ihr suchten, und redete ihrer Tochter nicht das Fulbright Fellowship für das Studium der Politischen Wissenschaft an der Freien Universität Berlin aus.

Der Nachlass enthält viele Zeugnisse des alten Lebens, der Jahre in Deutschland vor der Emigration.
Die Ehe mit Fred, die Kinder, nach der Tochter in Österreich noch ein Sohn in den USA, das Engagement für die Sache der Juden in den USA und in Israel, politische Neugier und kulturelle Interessen – sie hatte in den USA ein erfülltes Leben, und wie der Vater Jahre nach dem Tod der Mutter fand auch sie Jahre nach dem Tod des Mannes noch mal in eine glückliche Beziehung. Sie starb am 18. April 2008.

So entschlossen sie mit der Ankunft in den USA das neue Leben begonnen hatte – ihr schriftlicher Nachlass enthält vor allem Zeugnisse aus dem alten. Was hat sie alles aufgehoben! Ihr Poesiealbum, ihre Zeugnisse, Aufsätze ihrer Schwester, die Stücke, die sie geschrieben hat, die Programme und Rezensionen der Stücke, in denen sie gespielt, und der Auftritte, bei denen sie gesungen hat, Einladungen und Absagen zum Ball, den sie 16-jährig gab, Manfreds Diplome und Studienbuch, jeden noch so kargen Gruß zur Verlobung und zur Geburt ihrer Tochter, ihren Pass mit dem J, ihre Anträge auf das Visum, ihre erfolgreichen und vergeblichen Bemühungen um Ausreise von Verwandten und Freunden, die Judensterne von Manfreds Eltern, alle Schreiben aus dem Wiedergutmachungsverfahren ihres Vaters, Zeitungsausschnitte, in denen die Familie vorkam, und Briefe, Briefe, Briefe. Exil ist Abschied nehmen, neu anfangen, Altes aufgeben und Altes festhalten.

STOLPERTEXTE
Stolpertexte sind Texte deutscher Schriftsteller und Schriftstellerinnen über jüdische Schicksale, die im Archiv des Leo Baeck Instituts New York dokumentiert sind. Sie erscheinen in loser Folge in Zeitungen, zu deren Vertriebsort oder -region die Schicksale einen Bezug haben – zum drüber Stolpern bei der morgendlichen Lektüre oder beim Surfen in Internet.

Wir danken dem Leo Baeck Institut für die Genehmigung zur Verwendung der Photographien; Courtesy of the Leo Baeck Institute.